Wie frei und präsent bist Du in kritischen Situationen und im Alltag? Wie kann man das trainieren?
Wer das Glück, die Gelegenheit und die Ausdauer hat, über längere Zeit die Kampfkünste und die sogenannten Inneren Künste mit Hingabe üben zu können, dessen Training und Motivation wird früher oder später immer mehr von einer Einsicht geprägt sein: Letztendlich geht es im Budo um die Übung des Geistes und des Lebens, um Lebenstraining. Und irgendwann fließen die unterschiedlichen Bereiche der Übung zusammen zu der einen Kunst des bewussten Seins: Kampfkunst mit ihrer Wachheit, Entschlossenheit und Genauigkeit, innere Energiearbeit mit der Schulung der Wahrnehmung, Empfindungsfähigkeit und inneren Geschicklichkeit, Meditation mit der Kraft der Offenheit, Hingabe und Erkenntnisfreude. Dann werden Leben und Übung eins, werden zum Weg, werden zum Do. Und dieser Weg kann wundervoll inspirierend und spannend sein …
In diesem Sommer, als ich am Ufer des Hölzernen Sees südlich von Berlin intensiv meditierte, ist eine ebenso wirkungsvolle wie tiefgehende Übung zu mir gekommen. Davon möchte ich Dir hier erzählen. In vielen Jahren der stillen Meditationspraxis hatte ich immer besser gelernt, im Zustand des klaren, leeren und offenen Geistes mühelos zu verweilen. Wenn Du in diesen Zustand eintrittst, dann nimmt Dein Bewusstsein alles wahr und bleibt doch an nichts hängen. Es war nun an der Zeit für den nächsten Schritt: Wie kann ich den Zustand der reinen Präsenz auch in Bewegung, in Aktion bewahren? Als ich eines Abends kurz nach Sonnenuntergang ruhig da saß und nach Wegen zu suchen begann, die sitzende Meditation durch neue Herausforderungen zu bereichern, kamen mir überraschend die vorbeihuschenden Fledermäuse am See zu Hilfe.
In der Dämmerung, wenn kaum noch Licht vorhanden ist und der kühle, würzig-feuchte Geruch des Hölzernen Sees langsam die Luft füllt, schwärmen sie aus. Hören kann man sie dabei kaum. Den Ortungsschall, den die Fledermäuse benutzen, können wir Menschen nicht wahrnehmen. Nur ab und zu ein heller, so genannter sozialer Ruf, mit dem sie sich untereinander verständigen. Wenn man sehr still da sitzt, dann fliegen sie schon mal so dicht an einem vorbei, dass man das schnelle Flattern ihrer Flügel für einen Augenblick hören kann.
Jagend flitzen die Fledermäuse über der Wasserfläche hin und her. Manche ganz niedrig, direkt über dem Wasser, manche in einigen Metern darüber. Ihr Flug wird oft von plötzlichen, den Gesetzen der Physik trotzenden Haken und Loopings durchbrochen. Es wollte mir einfach nicht gelingen, mich mit meinem Blick unterbrechungsfrei an diese kleinen Flugakrobaten zu heften. Gerade hatte ich sie doch noch im Visier … und schwupps … im nächsten Augenblick waren sie schon wieder entschwunden, scheinbar wie aufgelöst, und tauchten irgendwo anders auf.
Die Frage, die sich mir aufdrängte war: Kann ich den meditativen Zustand der Ich-freien, direkten Präsenz bewahren und trotzdem mit den Augen, ja mit meinem ganzen Körpergefühl und Zentrum die Verbindung zu den umher sausenden Fledermäusen halten? Und siehe da … wow! Es funktionierte! Natürlich nicht perfekt, aber doch gut genug, um die ganz andere Wirkung und Qualität auszumachen, die dabei möglich ist.
Wie erstaunlich! Blieb ich dabei in dem richtigen geistigen Zustand, war es ein Leichtes, die Fledermäuse nicht aus den Augen zu verlieren, auch nicht während ihrer bizarren Jagdmanöver. Mehr noch – ich konnte mehrere Individuen im Geiste halten und wusste genau, wo diese gerade sind. Und überhaupt: waren da noch Augen oder war da nur ein weiter bewusster Raum in dem sich das alles abspielte? Erst wenn der Filter des Ich-Bewusstseins sich wieder vor diese direkte Verbundenheit und Klarheit schob, entgingen die flinken Flugkünstler meiner Verfolgung. So ging das hin und her … eben wie bei jeder Übung, an die man sich neu wagt.
Ich freue mich schon auf das nächste Praxisretreat am See und auf ähnliche Herausforderungen im Alltag! Selbst nach über 30 Jahren der Übung gibt es noch so viel zu lernen und zu entdecken – hier und jetzt, in jeder Situation, im kreativen Umgang mit den Gegebenheiten.