Es gibt einen amerikanischen TV-Dokumentarfilm von 1958, der „Rendezvous with Adventure“ heißt, in dem zwei korpulente Herren mit Cowboyhüten das Hombo Dojo, das Aikidohochquartier in Tokyo, besuchen. Sie sind rund um die Erde auf der Jagd nach großem Abenteuer für richtige Kerle und werden neugierig auf diese merkwürdige Kampfkunst und ihren alten Begründer. Zu der Zeit war Morihei Ueshiba etwa 75 Jahre alt, was ihn nicht daran hinderte, mit einem der großgewachsenen Amerikaner eine Weile herumzutanzen. Bei einem Tischgespräch fragen die TV-Männer, was sich eigentlich hinter Aikido verbirgt, welche Prinzipien dessen Grund ausmachen und wie der alte Mann, knapp halb so groß wie sie, solche Großtaten verrichten kann. Ueshiba weist auf einen gezeichneten Kreis auf dem Tisch vor ihnen und sagt, dass jeder Kreis ein Zentrum haben muss – sonst geht es nicht, ihn zu zeichnen. Aha, murmeln die Amerikaner verwirrt.
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Dann erzählt Ueshiba nur von Kototama (oft Kotodama geschrieben). Der arme Koichi Tohei, der zu der Zeit Ueshiba zu assistieren pflegte, tut was er kann, um in sein mageres Englisch zu übersetzen. Schließlich gibt Ueshiba eine Probe der Lautmystik, die Kototamas Kern ist, und spricht einen langen Vokallaut aus, gleichzeitig wie er mit seinem Fächer ein Kreuz in die Luft vor sich zeichnet. Kototama war wirklich der subtile Kern in Osenseis Aikido, und er konnte seinen Schülern lange Vorträge über den Gegenstand halten, die meist nicht viel mehr begriffen als die amerikanischen TV-Journalisten. Glücklicherweise stellte er nie die Forderung an sie, sich in die Lehre zu vertiefen, so wie er selbst es getan hatte. Im Gegenteil sah er es nicht gern, wenn Schüler es ihm in seinen geistigen Übungen gleichtun wollten und unterbrach sie mit den Worten: „Mach mich nicht nach!“
Doch war es in seiner Seele und seinem Herzen zweifellos so, dass Aikido ein Ausdrück für die Kosmologie war, die er in Kototama gefunden hatte. Sein Aikido war in seinem Kern eine religiöse Übung, die er auf die Grundlange der Lehre von Kototama stellte. Ueshiba hatte ein zutiefst religiöses Weltbild mit shintoistischem Grund, das speziell beeinflusst war von seinen vielen Jahren mit der religiösen Bewegung Omotokyo.
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Im traditionellen Shintoismus gibt es ein System von Kosmologie und Mystik, das Kototama genannt wird, und welches das Weltall ausgehend von Lauten und Vibrationen beschreibt. Kototama kann ungefähr mit die Seele der Wörter oder der Geist der Wörter übersetzt werden. Es ist ein System von Vokalen, Konsonanten und deren Kombinationen, in dem jeder Laut seinen Inhalt und seine dahinterliegende Bedeutung hat. Wenn die Laute kombiniert und ausgesprochen werden, sind diese dahinterliegenden Kräfte wirksam, wie Vibrationen. Sie tragen eine spezielle Bedeutung und wirken auf den, der sie ausspricht. In Kototama werden also, als eine Form der Meditation oder als Reinigungszeremonie, diese in ihren Zusammenhang gesetzten Laute geübt. Sie werden rezitiert, wie ein Gebet oder mantra, die indische Form der Lautmeditation. Aber sogar in der alltäglichen Rede, so wollen es die Prinzipien von Kototama, sind diese Kräfte wirksam.
Das System ist natürlich sehr alt und ist zu einer nahezu unüberblickbaren Komplexität entwickelt worden. Außerdem gibt es unterschiedliche Lehrrichtungen, aber die grundliegenden Prinzipien sind die selben. Kototama bezieht seine Kosmologie aus den japanischen religiösen Urkunden des achten Jahrhunderts, Kojiki und Nihongi (Nihonshoki). Die langen Namen der Götter und deren Abenteuer sind in der Perspektive Kototamas Schlüssel dafür, wie die Welt entstanden ist und welche Gesetze darin herrschen – sowohl für Menschen als auch für Götter.
Onisaburo Deguchi, Omotokyo.
Ähnliche mystische philosophische Systeme gibt es auch in anderen Religionen, wie im Buddhismus und Hinduismus, oder in der Kabbala des Judentums. Sogar die Anthroposophen legen den unterschiedlichen Lauten und Buchstaben einen gewissen Wert bei. Im Christentum schimmern ähnliche Gedanken durch, zum Beispiel in den ersten Zeilen des Johannes Evangeliums: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.“
Möglicherweise kommen die Gedankengänge in Kototama vom tantrischen Sphota-Vada, das im 9.Jahrhundert von dem buddhistischen Priester Kukai in Japan eingeführt wurde. Er bildete die buddhistische Bewegung Shingon, Wort der Wahrheit, das es immer noch gibt. Das Wort Shingon ist das selbe wie im indischen Sanskrit Mantra, heilige Wörter, die dem Menschen durch ihr Aussprechen Klarheit bringen und ihn zu einem höheren Zustand führen. Das bekannteste Mantra ist OM, das Universelle, geschrieben mit einem Symbol, das die Buchstaben A, U, M enthält. Meditiert man mit dem Mantra OM, dann soll der Laut vom unteren Teil des Bauchs hoch in den Kopf steigen, wenn er von O nach M gleitet. Eine klassische hinduistische Phrase (Es handelt sich um ein buddhistisches Mantra, des Diamantweges. Anm. d. Red.) ist Om mani padme hum: „Om, das Juwel, hat sich in der Welt offenbart.“ („Das Juwel im Lotus.“, Anm. d. Red.) Diese Betrachtungsweise liegt Kototama sehr nahe.
Eine gewisse Renaissance in den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts brachte Kototama in einige religiöse Sekten, wie Omotokyo. Einige dieser Bewegungen – jedoch nicht Omotokyo, welches eine bemerkenswert tolerante und offene Weltanschauung pflegte – sah diese Kosmologie als einen Ausdruck für die Oberhoheit der japanischen Sprache an. Als der Kaiser am Ende des zweiten Weltkrieges vor den amerikanischen Streitkräften kapitulierte und erklärte, nur ein Mensch zu sein, kein Gott – da führte die japanische Enttäuschung und Scham dazu, dass der Shintoismus an Boden verlor. Damit auch Kototama.
Sogar unter Japanern gibt es heute äußerst wenig Aikidolehrer, die sich mit Kototama auskennen, oder der Lehre auch nur das geringste Interesse entgegenbringen. Es scheint so zu sein, dass nicht einmal der letzte doshu, Kisshomaru Ueshiba, Oberhaupt des Aikido nach osenseis Tod bis zu seinem eigenen Ableben 1999, diesem jegliche besondere Bedeutung beimessen wollte. Dasselbe scheint für den jetzigen doshu Moriteru Ueshiba zu gelten. Doch Toshikazu Ichimura zum Beispiel, der zwischen 1966 und 1986 als schwedischer Hauptinstruktor wirkte, studierte Kototama hingegeben und unterrichtete darin, bis er sich in einer japanischen christlichen Bewegung engagierte. Dasselbe tat Masahilo Nakazono, der in den sechziger Jahren in Frankreich wirkte und am Anfang der 70er Jahre in die USA zog, wo er Kototama und Naturmedizin praktizierte, aber bald völlig mit Aikido aufhörte. Obwohl Kototama weit davon entfernt ist, eine sichtbare Rolle im Aikido oder einer anderen Budoart zu spielen, findet man es da dennoch, sozusagen hinter den Kulissen. Viele Kiais scheinen an die Prinzipien des Kototama geknüpft zu sein, ebenso ein guter Teil der Kosmologie, die von Aikido und anderen Budoarten ausgedrückt wird. Wir wollen deshalb noch ein Auge auf diese verzwickte Lehre werfen.
Kototama, die den Lauten innewohnende Ordnung.
In der japanischen religiösen Urkunde Kijiki, Die Chronik der frühen Dinge, vom 8.Jahrhundert, wird berichtet, wie die Sonnengöttin Amaterasu einst aus Entzürnung über die Grausamkeiten der Welt weglief und sich in einer Grotte verbarg. Die Welt lag in Dunkelheit und die übrigen Götter wussten nicht, wie sie das Licht in sie zurückbringen könnten. Sie versammelten sich am Eingang der Grotte und baten darum, dass Amaterasu sich der Welt erbarmen und zurückkehren solle, aber diese ließ sich nicht erweichen. Da kamen sie auf die Idee, sie mit einem Spiegel zu locken, und Amaterasu wurde so neugierig auf ihr eigenes Spiegelbild, dass sie schließlich aus der Grotte kam, um sich selbst zu betrachten. Das Licht war in die Welt zurückgekommen. Diese Sage ist wohl die zentrale der religiösen Legenden in Japan, das sich ja Reich der Sonne nennt. Und es liegt große Symbolik in der Begegnung der Göttin mit ihrem Spiegelbild, die das Licht wiedergebiert.
Kototama sieht das Weltall wie zwei Seiten: das was ist und dessen Ausdruck, Objekt und Subjekt. Das, was ist, hat keine Begrenzungen, aber ebensowenig hat es Substanz, bevor es bemerkbar wird, bevor es sich spiegelt und seiner selbst gewahr wird. So gibt es zum Beispiel den Menschen durch das, was er tut, den Abdruck, den er von sich hinterlässt. Jeder Mensch stiftet Bekanntschaft mit sich selbst dadurch, dass er seiner Handlungen, seines Körpers, seiner Gedanken und Gefühle gewahr wird. Es ist unser Bewusstsein, das unser Wesen augenfällig, das uns sozusagen wirklich macht.
Kototama erklärt die Entstehung des ganzen Weltalls mit diesen Begriffen. Zuerst war nur Chaos, die große Dunkelheit, die es gab, die aber nicht vernommen, nicht erlebt werden konnte. Als das Licht plötzlich angezündet wurde, wurde im selben Augenblick dessen Spiegelung geboren – die Wahrnehmung des Lichts. Was wäre das für ein Licht, wenn kein Auge es sehen würde?
Kototama beschreibt diesen Prozess mit Lauten, wobei das ursprüngliche dunkle Chaos U ist, welches dem Gott des Shintoismus Ameno-Minaka-Nusi entspricht. Der Betrachter ist der Laut A, der Gott Takami-Musubi, und das Betrachtete ist der Laut WA, der Gott Kami-Musubi. Wenn die betrachtende Kraft A geboren wurde, muss diese von zwei zusätzlichen Kräften gefolgt werden: Die Erinnerung an das Betrachtete, die der Laut O ist, und der Schlusssatz, das Urteil über das Betrachtete, der Laut E. Auf der Seite des Betrachteten – von WA – wird gleichzeitig WO und WE geboren.
Von diesen vieren in der der dritten Generation der Schöpfung kommen acht Kräfte, zwei aus jedem; sie sind die Konsonanten Kototamas: N,Y, R, M, K, S, T, H (Kototama betrachtet Y als einen Konsonanten, und spricht ihn wie das deutsche J aus). Schließlich gibt es eine Lebenskraft, die all das durchdringt, ein Äther ohne Grenze, der alle anderen Kräfte umschließt und sie zu einer Ganzheit werden lässt. Diese aktive Substanzseite ist der Laut I, der Gott Izanagi, und seine passive Objektseite ist der Laut WI, der Gott Izanami. Diese zwei Götter waren ein Zwillingspaar, männlich und weiblich, die in höchstem Grad an der Schaffung der Welt beteiligt waren – sie fuhren im Meer herum und brachten auf diese Weise den Schlamm an die Oberfläche, den die Legende als Japans Ursprung ansieht. In der inzestuösen Beziehung dieser zwei soll auch das kaiserliche Geschlecht seinen Anfang genommen haben.
Ausgehend von diesem Prinzip der Entstehung werden die Laute in ein System geordnet, da die reinen Vokale Mütter genannt werden, die Konsonanten Väter, und die Kombinationen von diesen sind die Kinder. Ein Schema von diesen zeigt insgesamt fünfzig unterschiedliche grundliegende, einsilbige Wörter – fünf Vokale, deren fünf Spiegelungen, sowie die vierzig Kombinationen mit Konsonanten. Wenn alle fünfzig Laute in einem einzigen vereint werden, wird das WN, was für das All steht.
Laute, die in diesem System nicht vorkommen – zum Beispiel die Vokale ä, ö und ü, sowie ein guter Teil Konsonanten – werden in Kototama als unreine Laute angesehen, von Menschen erfunden. Solche Laute sind an und für sich nicht verwerflich, aber sie tragen nicht den spirituellen Inhalt von Kototama in sich. Unter den außengebliebenen Konsonanten gibt es zum Beispiel L, aber die japanische Sprache unterscheidet nicht L von R, welches vorkommt. D, G und Z fehlen, aber deren stimmlose Entsprechungen T, K und S sind vorhanden. Dagegen fehlen sowohl das stimmhafte B als auch dessen stimmlose Entsprechung P, obwohl sie – sparsam – in der japanischen Sprache vorkommen. Vielleicht gibt es irgendwo eine phonetische Erklärung dafür.
Kototama, 50 grundlegende Wörter.
Nakazono und sein Nestor Koji Ogassawara meinen, dass die Prinzipien von Kototama vor den Menschen verborgen wurden, als diese einst in Takamahara lebten, einer Art Lustgarten Eden, auf dass sie kämpfen sollten, um die Welt zu erforschen und durch diese vertiefende Betrachtung diese ganz zu machen, für sich selbst zu beweisen. In über viertausend Jahren haben wir auf diese Weise unsere Welt erforscht und dargelegt, aber bald ist es Zeit, dass wir auf die grundlegenden Beweise für die Wirklichkeit von Kototama stoßen und da in ein drittes Zeitalter eintreten. Nakazono hat durch das Studium von Takeuti Kobunken, einem shintoistischen Klassiker, herausgefunden, dass das im Jahr 2011 geschieht. Wir sollen da eine wissenschaftliche Bekräftigung der Thesen dieser Religion gefunden haben und in einer friedlichen Welt Ruhe finden, die sowohl ganz ist als auch sich selbst in ihrer Ganzheit betrachtet.
Der Gedanke, dass Laute, oder richtiger gesagt Vibrationen, mit den Gesetzen und Kräften des Universums verknüpft sind, muss nicht so weit hergeholt sein. Diejenigen, die heutzutage Kototama ausüben, deuten gerne auf die Landgewinnungen der Physik, die in die selbe Richtung tendieren. Licht ist Wellenbewegung, Laut auch – wenn auch bedeutend langsamer. Die Ato me bestehen aus Partikelbewegungen und der ganze Kosmos wird von verschiedenen Arten von Strahlung durchdrungen. Kurz gesagt wird alles in unserem Kosmos von periodischer Bewegung gekennzeichnet – Vibrationen, wenn man so will.
Die Frage ist, ob es etwas, das sich nicht bewegt, überhaupt geben kann. Wir sprechen von dem absoluten Nullpunkt, minus 273,16 Grad Celsius (-273,15 Grad Celsius, Anm. d. Red.), als der Kälte, da die Bewegung der Atome völlig aufhört. Sie wurde noch nirgendwo gemessen. Nichts auf der Welt scheint völlig ruhig sein zu wollen.
In Kototama wird dieses Prinzip der Beweglichkeit durch Theorien über die unterschiedliche Bedeutung von Vibrationen und Lauten ergänzt. Das ist natürlich eng an die Sprache gekoppelt und an die Gefühle und Assoziationen, die unterschiedliche Laute auslösen, wenn wir sie in unseren Mund nehmen. Obwohl das Ganze auf der japanischen Sprache und Aussprache basiert, ist es nicht allzuschwer, den Gedankengang und die Erfahrungen zu erahnen, die dahinter stehen. Die fünf Vokale beschreiben Stadien in der menschlichen Entwicklung, die im Fortschreiten der ganzen Zivilisation wiederkehren.
Zuerst kommt das U, ausgesprochen wie in zum Beispiel „hungrig“. Das ist das grundlegende Niveau, welches das reine Überleben und die Fortpflanzung berührt. Nur streng materielle Dinge üben eine Verlockung aus. Produktion und Vermögen.
O, ausgesprochen wie in „Organisation“ ist der konstruktive Abschnitt, Ingenieurskunst und Entwicklung. Hier wird erfunden und aufgebaut, der Ehrgeiz regiert, und das Dasein wird organisiert. Die Wissenschaft steht im Zentrum.
A, ausgesprochen wie in „Artist“, ist das reflektierende Stadium, da das Dasein begründet und geschildert wird, da die Sehnsucht nach Sinn und Schönheit groß wird. Kunst und Religion gehören hierher, wie auch das Gefühlsleben.
E, ausgesprochen wie in „Ethik“, ist eben das ethische Niveau. Hier vermag man die Eigenschaften und Ziele der vorhergehenden Stadien klar zu betrachten und einzusehen, sowie Klarheit über recht und unrecht, gut und schlecht zu gewinnen. Die moralischen Prinzipien und die Aufgabe des Menschen im Leben stehen im Vordergrund.
I, wie in „Ziel“, ist die Lebenskraft selbst, die alles umschließt. Erst wenn man dieses Niveau erreicht hat, fallen alle Stücke an ihren Platz und man kann seine Einsichten realisieren, sie eins mit seinem Leben werden lassen. Das Kopfzerbrechen der früheren Ebenen verliert seine Bedeutung, alles ist klar und der Mensch ist sozusagen vollendet und gleichzeitig wie neugeboren. Dieses höchste Stadium ist in sich nichts Neues, es haucht den Erfahrungen aller vorhergehender Stadien lediglich Leben ein, setzt sie in ihren richtigen Zusammenhang.
Mehrere gewöhnliche Kiais lassen sich wie Richtungen auf dieser Entwicklungsleiter beschreiben. UI, das Ichimura anwandte, beschreibt die Länge der ganzen Leiter vom Grund bis zur Spitze, wie ein Stimulantium, um sich nach oben zu bewegen und zu zeigen, dass der Bewegung an nichts fehlt. EI sind nur die zwei obersten Sprossen, in denen die ethische Dimension unterstrichen und dann zu wirklichem Leben geweckt wird – da drückt der kiai ein moralisches Recht zu Handlung aus und einen Wunsch, dass diese für das Gute wirken soll, Leben geben soll anstatt es zu stehlen. Kiai, die in die entgegengesetzte Richtung die Leiter abwärts wandern, sind nicht ebenso gewöhnlich, insbesondere nicht unter Japanern, und müssen laut Kototama als unglücklich betrachtet werden. Wer gern IA ausruft, offenbart damit, dass er mit seiner Technik das Leben zu einer Kunst begrenzen will, das heißt, dass er mit narzissitscher Entzückung sein Vermögen vorführt.
Die Konsonanten, die sogenannten Vaterlaute, sind nicht so leicht zu erklären. Sie kommen paarweise aus O, WO, E, WE, da wiederum die reinen Vokale für das subjektiv Aktive und deren Gegensätze für das objektiv Passive stehen, was auch für die Konsonanten gilt. Die ersten vier, N, Y, R, M gehören zu der passiven Seite und haben weich ausgestreckte Töne. Die vier, die zur aktiven Seite gehören, K, S, T, H sind kurz und hart im Ton, außer dem S, das jedoch vielleicht mit seiner Schärfe trotzdem dieser Gruppe in seinem Ton am nächsten liegt. Die Konsonanten haben Eigenschaften, die an sich Richtungen sind, und deshalb bedeutungslos, bevor sie etwas tragen – das heißt mit Vokalen kombiniert werden.
N wird angezogen und Y entfernt sich, R wirbelt und M rotiert, K berührt und S durchdringt, T verbreitet und H entwickelt. Die ersten vier sind vom passiven Typ, die letzten vom aktiven.
Wenn so Konsonanten und Vokale ihre Kinder bilden, bekommen diese eine spezielle Bedeutung, darauf beruhend, aus welchen Lauten sie Kombinationen darstellen. Diese Bedeutungen sind oft abstrakt und schwerbegreiflich, wenn sie von Verkündern Kototamas präsentiert werden. Obwohl die Kinderlaute die allerkonkretesten Ausdrücke für diese Prinzipien sein sollen, werden die Erklärungen vage, so als ob sie unmöglich dechiffriert werden könnten. Man könnte wohl mit den Atomen vergleichen, die umso unbegreiflicher für die Wissenschaft zu werden scheinen je weiter man in sie vordringt, in je kleinere Bestandteile es glückt sie aufzuteilen.
Wir werden es trotzdem mit einem den Schweden nahestehenden Beispiel versuchen.
Wenn wir lachen, kann der Laut oft beschrieben werden wie der Konsonant H in Kombination mit einem Vokal. Das klingt ungefähr so – und wir schreiben es so, eine Tatsache, der von Kototama eine große symbolische Bedeutung zuerkannt wird. H beinhaltet immer entwickeln, wie die Blume wenn sie ausschlägt oder auch das Feuer, wenn es sich verzehrt. Das Lachen wellt aus dem Inneren hervor, und es gehört natürlich zu dem Agierenden, zu dem, welcher betrachtet. Die Wahl des Vokals enthüllt weiterhin den Charakter des Lachens, dessen Geist.
HI ist da das glückliche Gelächter, das in Entzückung schwelgt, darüber, dass es einen gibt und dass man dieses Lustige erleben kann, was es auch ist. Das Lachen ist wie ein Rausch, ein Kitzeln.
HE ist das siegesgewisse Gelächter dessen, der weiß, dass er recht hat, der seine Pläne ins Schloss schnappen sieht oder der andere erniedrigt. Das Lachen hat nicht so viel mit Freude zu tun, sondern mit Analyse und Schlussfolgerung. Leider klingt es oft überlegen oder ausgesprochen hämisch.
HA ist das schallende Gelächter, wo das Gefühl der Freude wirklich herausgelassen wird. Hier ist gerade das Gefühl das Zentrale, sich zu amüsieren und das zu zeigen. Ein solches Lachen muss laut sein und lang klingen. Wenn die Silbe nur einmal ausgesprochen wird, drückt sie Stolz, Triumph aus.
HO ist das Lachen des schwedischen Weihnachtskobolds, ganz klar. Der dicke Alte, der mit Geschenken kommt und um die Welt fährt, um ein wenig materielle Freude zu verbreiten. Das ist das Lachen derer, die von irgendwo kommen und auf dem Weg woandershin sind, die sich erlauben können, ein wenig auf dem Weg zu lachen aber ihre Fahrt dennoch nicht abbrechen.
HU ist das tiefe Gelächter aus dem dunklen Inneren des Menschen. Es folgt meist nach einer grusligen Geschichte oder einer anderen Sache, vor der man sich fürchten kann. Das Gefühl ist obskur, es könnte fast genauso gut ein Weinen oder ein unzufriedenes Grunzen sein. Der Laut ist schwer zu deuten und damit beunruhigend, weit entfernt von Munterkeit.
Gewiss ist das Voranstehende kaum mehr als Onomatopoetik aus Comicheften, und soll nicht ernster genommen werden. Gleichzeitig ist es bemerkenswert, wenn schon die von Comicsprache ist, wie es eben dieser gelingt, menschlichen Ausdruck und Gefühl in einzelnen Symbolen hervorzubringen – und wie nahe diese an Kototama herankommen. Das wirklich glückliche Kichern wird ja in Comics mit TI-HI umschrieben, welches zufällig genau das Wortpaar ist, das aus O gebildet wird. Das gibt einem zu denken.
Nun, wenn wir zum Kiai der Budokünste zurückkehren, so kann man mit Kototama konstatieren, dass unterschiedliche Budoarten klug daran tun, den Kiai danach auszuwählen, was sie zustandebringen wollen. Wenn man in Karatedo tameshiware üben will, das Zerschlagen von Gegenständen, ist eine Kombination von S für das Durchdringen und O für die Technik, das Konstruktive und Destruktive, am geeignetsten. Interessanterweise haben Karate-Ausübende auch die Gewohnheit, einander mit einem Wort, das wie OS klingt, zu grüßen und damit auf ihre Lehrer zu antworten – d.h. seine Technik anwenden, um durchzudringen. Der Karateka, der dem, welchen er trifft, lieber Leben schenken will, sollte SI als Kiai anwenden – durchdringen, um Leben zu geben, wie die Spritze mit Medizin für den kranken Patienten.
Kototamas kosmologisches Gyroskop, entnommen aus „Gyroskopdes Lebens“, ein Heft übersetzt von Nakazono, herausgegeben vomschwedischen Aikikai Anfang der 70er Jahre. Zeichnung: Autor.
In Aikido sollten vielleicht die Konsonanten R und M, wirbeln und rotieren, die naheliegendsten sein, und der Vokal A, der auch der Anfangsbuchstabe dieser Budokunst ist. Da wird es wie ein Tanz. Wünscht man ein Aikido, das sich an das friedliche Prinzip hält und wie ein Erzieher sein will, muss der Vokal selbstverständlich E sein. Vielleicht KE, um auf den Partner zuzugehen und ihn zu berichtigen, dann TE, um die Kräfte zu verbreiten und den Kampf zunichte zu machen – das entspricht den Schritten irimi und tenkan.
Man kann es natürlich nicht lassen, mit Kototama das Wort aikido analysieren zu versuchen. Die ersten zwei Vokale beschreiben die Bewegung von Kunst und Gefühl zum Leben selbst – eine Kunst, die Leben geben soll, das ist unleugbar Osenseis Wunsch. Ki(Qi) ist die Kraft, etwas, das das Leben selbst berührt und es damit ständig stimuliert. Do wird in Kototama TO, Wissen und Können verbreiten. Eine Erklärung des ganzen Begriffes wird da ungefähr: Wissen darüber verbreiten, wie man das Leben selbst stimuliert, um die Kunst grenzenlos lebendig zu machen.
Man kann sich vorstellen, dass es möglich ist, solchem Studium eine Lebenszeit zu widmen, und dass dieses, auf solche Weise ausgedrückt, einen Wert weit über den Trainingsraum hinaus haben kann. Sonst könnten nicht Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt, Menschen vom Aikido angezogen werden. Die meisten, die so lange trainieren, haben keine Antwort darauf, warum es so geworden ist und was sie dort gehalten hast – vielleicht kann Kototama das formulieren, vielleicht nicht. Ich habe jedoch gemerkt, dass sowohl dessen Prinzipien als auch seine Übungen das Training inspirieren und diesem neue, frische Blickwinkel geben, sogar (oder besonders) für die, welche die längste Zeit mit Aikido hinter sich haben.
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