Die Ansicht, dass jede Sache ihre Zeit hat, scheint oft von denen vertreten zu werden, welche selbst wünschen, in einem Stadium zu verbleiben, das sie eigentlich hinter sich lassen müssten, weil sie die nötige Reife erreicht haben. So wie jedes Alter im Leben der Menschen seinen Lohn und seinen Preis hat, so muss man in jeder Phase seiner Entwicklung etwas aufgeben, um etwas anderes aufnehmen zu können. Manchmal kann es schmerzen, dieses Etwas aufzugeben, man bleibt in seiner Unschlüssigkeit, aus dem einfachen Grund, weil man weiß was man hat, aber nicht, was man bekommt.
Morihei Ueshiba ist ein deutliches Vorbild, aber er wird als solches unterschiedlich genutzt und gedeutet. Viele wollen aus ihm ein unnahbares Ideal machen, einen Heiligen auf einem hohen Sockel. In ihren Augen ist es fast aufrührerisch zu versuchen, sich ein ebenso hochstehendes, genauso blendendes Aikido anzueignen wie osensei (der große Lehrer) es beherrschte. Ich bin überhaupt nicht sicher, dass er sich selbst als solches Unikum betrachtete. Warum hätte er sich dann überhaupt darum bemüht, seine Kunst weiterzugeben? Moriheit Ueshiba trieb seine Schüler mit einer Fülle von Erklärungen und Anweisungen voran, auch wenn diese nicht immer begreiflich für jeden einzelnen waren. Wenn wir ihn als einen Entdecker betrachten, einen Neugestalter der Kampfkunst, da ist es plausibler, dass wir nach seinem Tod nicht den Rückzug antreten, sondern uns darum bemühen, dort weiterzumachen, wo er aufhörte. Wir sollten uns mit all unserer Kraft bemühen und uns beeilen, um zu dem Aikido zu kommen, das Ueshiba kurz vor seinem Tod beherrschte, um von da aus weiterzumachen.
Ich glaube, dass das möglich ist. Jedenfalls weiß ich, dass es unmöglich ist, wenn wir es nicht versuchen.
Morihei Ueshiba wurde im Lauf der Jahre oft gefilmt. Auf diesen Filmen sieht man seine Entwicklung ungeheuer deutlich. In den frühesten bekannten Dokumentationen seines Aikido, von 1935, ist die Kraft groß und die Techniken mindestens genauso plötzlich und hart wie die Angriffe. Wie viele sich auch über ihn werfen, sie werden mit noch größerer Kraft zurückgeworfen. Aber in den letzten Filmen, die in den 60er Jahren aufgenommen wurden, geht er größtenteils nur herum und gestikuliert weich, geradezu gentleman-like, in die Richtung seiner Angreifer, und das bringt sie schon zu Fall – im selben Augenblick, da sie sich zum Angriff anschicken.
Unter Aikidomenschen gibt es viele, die den Film von 1935 für den Favoriten halten. Da kann jeder sehen was für ein großartiger Kämpfer osensei war. Die letzten Filme hingegen scheuen sie mit einem Gefühl von Verwirrung und Zweifel. Was er da zeigt, das ist wohl nicht möglich? Das ist wohl nur ein alter Mann, der von sehr gehorsamen Assistenten umgeben ist? Sein Aikido wurde also so, dass sogar Aikidoausübende zu glauben begannen, dass alles abgegemacht war. In meinen Augen sind diese letzten Filme die unvergleichlich faszinierendsten und anziehendsten. Da sieht man eine Kunst, die Klarheit schenken, die vielleicht dem Leben eine Bedeutung geben könnte. Also warum nicht dahin streben, mit allem was man vermag?