Morihei Ueshibas Weg
Alles bewegt sich und verändert sich – selbst Aikido. Das merkt man deutlich bei jedem Einzelnen, der beginnt es zu lernen. Obwohl es ein und derselbe Idealzustand sein muss, der Neuanfänger zum Training lockt, so werden sie schnell von den anfänglichen Begrenzungen ihres Körpers und ihres eigenen Verstands eingefangen und eine Zeitlang zu einem Aikido verführt, das ein Schatten von dem ist, was es werden kann.
Sie sind nicht allein damit. Jeder einzelne – sogar der Begründer des Aikido – hat das selbe durchgemacht. Die Entwicklung folgt mit Naturnotwendigheit dem Temperament des Alters und der Reife. Morihei Ueshiba, der in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Aikido aus den vielen traditionellen Kampfkünsten entwickelte, zeigte in seiner eigenen Entwicklung genau das, was alle, die Aikido trainieren, durchmachen müssen.
Er begann als schwacher Vierzehnjähriger, der verzweifelt sah, dass sein Vater von größeren und stärkeren Männern schikaniert wurde. Selbst war der junge Morihei sowohl kleiner als auch zarter als die meisten. Er wollte natürlich durch sein fleißiges Training der Kampfkünste stark genug werden, um sich wehren zu können. Das wurde er, und mehr als das. Das intensive, hingegebene Training machte ihn mit der Zeit so überlegen, dass er keine Befriedigung mehr darin finden konnte, über die früheren Gegner zu siegen. Er hatte Kraft wie wenige und es war schwer für ihn, jemanden zu finden, der ihm etwas voraus hatte. Konnte er sich denn mit denen einlassen, die ihm gegenüber hilflos waren?
Überdies hatten die Kampfkünste ganz andere Größen, ganz andere Essenzen, als die Süße der Rache und des Siegs bloßgelegt. Im Innern der tausendjährigen Tradition der Kampfkünste fanden sich Samen für ganz andere Werte. Diese hatten Morihei Ueshibas Aufmerksamkeit geweckt. Er erkannte das mit großer Verwunderung, als er eines Tages im Jahr 1925 von einem Offizier herausgefordert wurde, der seine Kräfte gegen ihn messen wollte. Anstatt dem Angriff des Offiziers mit noch größerer Aggressivität und Kraft zu begegnen, glitt er unter jedem Angriff durch. Am Ende hatte der Offizier seine ganze Energie an kraftvolle Angriffe vergeudet, die nie ihr Ziel trafen, und musste zur Erde sinken und aufgeben.
In diesem Augenblick wurde Aikido für Morihei Ueshiba geboren, der zu dem Zeitpunkt 41 Jahre alt war. Und doch wurde die Kampfkunst, die er zu lehren begann, nicht ganz so konsequent. Sie nahm ihren Anfang in den weggleitenden Manövern, sicher, aber nur um sofort danach den Angreifer gewaltsam zu Boden zu werfen. Ueshibas Kraft war groß, so dass auf jeden, der ihn angriff, schwindelerregende Flüge warteten. Sicher gab es da eine Weichheit, die anderen Kampfkünsten abging, und eine verdächtige Leichtigkeit in der Ausführung, die immer wieder junge Kämpfer zweifeln und ihn dann herausfordern ließ. Aber diese hatten ein jäheres Schicksal als der Offizier.
Als Morihei Ueshiba in den 30er Jahren um die fünfzig war, hatte seine physische Kraft ihren Höhepunkt erreicht. Keiner konnte ihm Paroli bieten, keiner war ihm überlegen. Er war unbezwinglich wie olympische Athleten, aber die Zeit verging für ihn wie für jene – wenn auch langsamer. In den 50er Jahren, als er 70 Jahre alt geworden war, nahm ein anderes Aikido überhand. Er war sicherlich weiterhin unbezwinglich, aber mehr auf die Weise, in der er dem wütenden Offizier dreißig Jahre zuvor begegnet war. Die physische Kraft und Unnachgiebigkeit machte Platz für etwas, das der weichen Stärke des Windes glich. Die Techniken wurden wie schwebend und zeigten keine andere Kraft als die des Angreifers. Ueshibas Aikido bekam das Äußere eines alten Mannes, aber das Innere eines lebensfrohen Kindes. Gerade weil er nie im Weg stand, war es unmöglich, ihn zu Boden zu bringen.
In den 60er Jahren, als sein Leben zu Ende ging, wurden die Bewegungen noch subtiler. Vor allem änderte er das Tempo. Sein Aikido wurde wie Synkopen in der Musik, es begann so zeitig, dass es manchmal dem Angriff zuvorkommen schien. Wenn Aikido eine Methode ist, den Angreifer zurück zu der natürlichen Harmonie, zum natürlichen Frieden zu führen, so tat Ueshiba das schon in dem Augenblick, in dem die Idee zum Angriff im Kopf des Parners entstand. Er machte seine Techniken nicht mit dem Körper des Partners, sondern mit dessen Intention. Deshalb wurden die Techniken wie Abstraktionen. Eine schweifende Bewegung mit der Hand in dem Moment, in dem der Partner losstürmte, und dieser fiel um. Geschwindigkeit war kein Problem, denn bei einem Spiegel ist diese natürlich die des Lichts.
Man kann sagen, dass Ueshibas Aikido schließlich zu rein leitenden Gesten wurde, so dass der Partner unmittelbar das ganze Aikido von allein machte. Ueshiba muss sich selbst als eins mit der Bewegung der Natur erlebt haben. Diese dem Partner ehrlich und unverblümt zu zeigen, machte den Angriff zunichte und führte ihn stracks zur natürlichen Ruhe zurück. Das kann man sagen – aber es auszuführen steht auf einem ganz anderen Blatt.